«Nichts ist mächtiger wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.»
Victor Hugo
Fällt eine Innovation auf den fruchtbaren Boden der Akzeptanz und bewährt sich auf revolutionär neuartige Weise, beginnt die hervorbringende Kultur zu wachsen. Die Erfahrungen der ersten folgenden Generationen zeigen, dass Abweichungen die Gemeinschaft schwächen – so entwickelt die Elite Dogmen, die gut funktionieren und der Gemeinschaft dienen.
Die Weltsicht der Mehrheit entwickelt sich über Generationen nach diesen Glaubenssätzen, bis diese soweit überholt sind, dass neue Ideen aufkeimen. Es kündigt sich eine kleine Revolution an, die nach einiger Zeit, wenn die Idee Normen der Elite verletzt, mit offener Gewalt unterdrückt werden muss. Ein Tipping Point. Bleibt das System steif, wird der Konflikt im Rahmen der verfügbaren Ressourcen weitergehen; die gute Idee wird kaum verschwinden.
Prinzipien des Wandels
Die Geschichte zeigt, dass so viele untergehende Hochkulturen den letzten Zeitpunkt zur Adaption neuer Ideen verpassten. Ab einem gewissen Punkt scheint es nicht mehr möglich zu sein, die neue Idee zu integrieren – das Alte muss erst weg. Im üblich ideal-idiotischen Fall werden Imobilien und Wertigkeiten der alten Machthaber eingerissen und vernichtet, obwohl es nur um emotionale Symbolik geht. Die eine oder andere antike Bibliothek könnte uns heute gute Dienste leisten, wenn sie nicht angezündet worden wäre.
Hier kann man die zwei grundsätzlichen Prinzipien des Wandels erkennen, die sich auch in der Natur finden lassen: Die verschwenderische Vorgehensweise, dass erst alles schön platt gemacht wird, um Neues auf altem Boden erwachsen zu lassen. Versus einem sanften Obergang in neue Muster, den man allerdings schlauerweise aktiv gestaltet und bescheiden mit der Eigendynamik der Prozesse arbeitet – nicht gegen. Die Natur klügelt Jahrtausende an Symbiosen.
Hinduismus ist ein Beispiel für systemische Flexibilität. Er zeigt aber auch, dass nicht die Philosopie selbst, sondern deren Auslegung das Mass der Dinge ist. Scheinbar kann man auch eine Kultur der Toleranz gewaltdogmatisch vertreten. Die gute Nachricht: Keine Gewaltkultur konnte sich im letzten Jahrtausend mehr durchsetzen. Sofern kann man folgern, dass die Kulturevolution insgesamt fortschreitet, da stark introsoziale und zugleich exoaggressive Kulturen das 21. Jahrhundern nur als Randerscheinung erreicht haben. Vielleicht war der 2. Weltkrieg das letzte Aufbäumen dieses Sozialisierungsart: Der ultimative Riesenstamm (also die Rasse als Familie betrachtet), der seine gesamte Restwelt als minderwertig taxiert. Und über diese darf absolut frei verfügt werden. Aus dieser Perspektive erscheint der Nationalsozialismus als eine globalisierte, sesshafte Form des Nomadentums. Aber eben: Ein Auslaufmodell, nicht antropozäntauglich.
Die Menschen üben sich spätestens seit vor fünf Jahrtausenden, als die Zeit der Hochkulturen begann, in Friedensphilosophien – die am Diktat der Macht wieder scheitern. Das finde ich unübersehbar. Echnaton erwähne ich mal als einen der ersten Alphas, der, wie ich vermute, im grossen Rahmen top-down die ideale Gesellschaft schaffen wollte. Er, aber vor allem seine Frau, wurden aus der Geschichte getilgt, weil sie die Priesterkaste entmachteten und es nur noch einen Gott geben sollte; Frauen noch stärker gefördert wurden, ebenso die Kunst. Ein männlicher Alpha, der sowas tut, ist bestimmt nicht uncool, nicht wahr.
Auch wenn viele lange Friedenszeiten in der Geschichte eher machtbedingt wie friedensmotiviert waren, kann man erkennen: Menschen wollen in ihrem Innersten tausend Künste, keine tausend Fehden. Aber wir fallen immer wieder auf ein ältestes Programm zurück: Unser Verhaltensrepertoire verfällt unter Existenzängsten in eine konservative Angststarre.
Die Kulturevolution scheitert an einem biologischen Reflex
Kein wahrer oder falscher Gott, noch Wissenschaft kommt dagenen an, wenn das Säugetier oder gar das Reptil in uns die Kontrolle übernimmt. Die Künste und Philosophien überleben nur in wenigen Menschen, wenn die Fehden ausbrechen, unbequeme Denker ermordet und kritische Bücher verbrannt werden. Jene Kulturen nun, die ein System zum Auffangen der Fehden entwickelten, scheitern spätestens an Naturkatastrophen oder Klimawandel – Mutter Erde zwang noch jede Grossmacht in die Knie. Bisher. Denn: Heute hätten wir tatsächlich die Ressourcen und die Technik, allem ausser Supervulkanen und extraterrestrischen Katastrophen zu trotzen.
Es müsste kein Mensch mehr sterben, weil sein Kontinent klimatisch gebeutelt wird. Wir helfen einander global über Ethnien und Glauben hinweg. Die Kultur der Nächstenliebe bewährt sich, da offenbar Kulturen, denen patriarchalischer Ehrenkodex und Fehden wichtiger sind wie Künste und Philosophie, früher oder später an einem scheitern, der halt einfach die bessere Waffentechnik hat. Dieses Spiel spielen wir zwar immer noch, aber global hat die Nächstenliebe zumindest Fuss gefasst. Wir versuchen es.
Die wenigen Alphas, die bisher Nächstenliebe kompromisslos im Staat integrierten, schafften dies nicht nachhaltig – woraus ich den Schluss ziehe, dass sich der ideale Staat, der sich zumindest auf ideologischer Ebene ausbreiten müsste, nicht von oben verordnen lässt. Die Zivilisation ist ein zartes Pflänzchen, das wohl gerade mal sein drittes und viertes Blatt ausbildet. Und ich bete, dass Nestle noch etwas Wasser übrig lässt.
Das 3. Jahrtausend A.D.
Was für Erkenntnisse kann man nun aus Perspektive einer Grossmacht daraus gewinnen? Das wichtigste schein mir:
- Alles ist vergänglich.
- Der Kampf gegen eine Idee, deren Zeit gekommen ist, aussichtslos.
- Überhebliches auftreten gegenüber der Mitwelt führt früher oder später dazu, dass die Mitwelt sich verbündet und einem niederzumachen versucht.
- Gelingt ihr das nicht, wird man selbst weiter wachsen, bis die Grösse einem soweit schwächt, dass es der Mitwelt doch gelingt.
- Gelingt es der Mitwelt immer noch nicht, wird eine Naturkatastrophe oder Übernutzung und Errosion dem Spiel ein Ende setzen.
Wenn man nun nur schon bauernschlau, erst recht intellektuell klug, diese Dinge anschaut, wird ein vielversprechendes System Grossmacht sich folgendermassen präsentieren:
- Ah, Deiner heisst Jesus. Kein Problem – bei uns hat eh jeder seinen eigenen, der dem Grossen Ganzen dient.
- Wow, ihr springt zehn Meter weit! Wie macht ihr das? Wir springen 5 Meter hoch, weil wir…
- Wir haben hier alles zu genüge. Was sollen wir weiter wachsen und expandieren? Nur aus Habgier etwa? Aber klaut Ideen, wie es euch gefällt.
- Wir brauchen Forschung, Technik und Maschinen, um uns auf Natur- und Allkatastrophen vorzubereiten und den Erhalt der Infrastruktur zu sichern. Willst du den Sturm mit einer Knarre erschiessen oder was?
- Wir brauchen deine Ressourcen. Viel davon. Du kriegst dafür gute Infrastruktur, sichere Versorgung und allgemein verbindliche Kontrolle der Gewalt.
- Wir organisieren die seltenen Ressourcen so, dass es für alle reicht. Nach innen und nach aussen.
- Die Welt unterhält ein gemeinsames Weltraumprogramm mit dem primären Ziel Energie, Rohstoffe und Erkenntnisse zu besorgen.
Diese Dinge einzurichten endet in einem fragilen Gleichgewicht der Interessen und Interpretationen. Es schafft Blüte, Wohlstand, Bildung. Und Begehrlichkeiten. Auch wenn ich es hasse, es schreiben zu müssen: Wenn die barbarischen Nomaden schnellere Pferde und bessere Bogen haben, kann ich meine beste Hochkultur in der Pfeife rauchen – ich komme nicht umhin, selber Ressourcen für Militärtechnik zu verschwenden. Und wenn es nur zur Abschreckung ist. Mache ich das nicht, muss ich meine Nachbarn entweder kulturell erobern oder aller spätestens nach der zweiten Dürre damit rechnen, dass sie meinen Vorräten auf die Pelle rücken.
Was für ein Scheissspiel, nicht wahr? Der konkrete Übergang ist der einer Konflikt- in eine Symbiose-Kultur, der auf der Welt sicher schon tausende Male stattfand. Jedes Mal kam irgend ein Neider, Kontrollfreak oder sonst Enttäuschter, der die Sache platt machte. Konkret von einem der zehn Prozent Alphas mit Gefolge. Obwohl das Gefolge selbst in der Regel mit dem anderen Gefolge lieber Alkohol trinkt statt Klingen kreuzt. Wenn sie das selber nur auch wüssten.
Nun ja, sig’s wi’s well. Als wahre Grossmacht sehe ich eine andere Dimension. Also nicht familiäre oder genetische Zugehörigkeit, auch nicht geologische, sondern eine geistige Haltung: Alle grossartigen Kulturen waren in ihren starken Zeiten der Wahrheit verpflichtet, sonst hätte die Expansion nicht funktioniert. Wahrheit ist, was funktioniert, und da gibt es viele Möglichkeiten.
Die Idealen Lehren
Die Kultivierung von Wahrheit sehe ich als die revolutionäre Idee, die seit vier, fünf Jahrtausenden arg bekämpft wird. Könige können sich darauf nicht herum tragen lassen. Ich betone die Wahrheit bevorzugt gegenüber der Liebe deshalb, weil zu beobachten ist, dass die selbstaufgebende Liebe als ideale Lehre des emotionalen Reife vor zwei Jahrtausenden eingeführt wurde und, zumindest konzeptionell, mehr als die halbe Welt erobert hat. Das Christentum als kulturelle Grossmacht mit dem Spezialfokus Spiritualität zeigt sehr reich dokumentiert, wie eine recht ideale Lehre der emotionalen Reife korrumpiert wird durch Alphas. Die Suche nach Wahrheit, also die idealen Lehre der geistigen Reife begann vermutlich vor zehntausenden, wenn nicht hunderttausenden von Jahren und ich bin sicher, dass unsere westliche Wissenschaft die erste geistige Lehre ist, die mehr wie die halbe Welt eroberte und damit auch zu einer kulturellen Grossmacht wurde.
Wir sind also auf gutem Weg, eine wirklich qualitative und nachhaltige Grossmacht zu werden, die den ganzen Planeten erobern kann. Das tausendjährige Reich. Die aus dem neuen Evangelium heraus destillierte Kraft der Nächstenliebe und die unerschütterliche, analytische Logik der Wissenschaft sind heute die besten Werkzeuge, um Menschen zu verbinden, zu verketten, ja eins werden zu lassen. Zu erkennen auch in der Statistik der Gewaltopfer pro tausend Erdbewohner: Dieser Durchschnitt sinkt kontinuierlich über die Jahrhunderte. Das ist weder Gotteswerk, Teufelszeug noch ein Wunder – es ist kulturelle Evolution. Nach dem Chassis entwickwelt sich auch das Betriebssystem, es kratzt von innen heraus an den Grenzen der Reflexzonen.
Nur, verdammt, woran scheitern wir denn ständig, seit Jahrtausenden? Ich behaupte, es ist unsere Angststarre, unser biologischer Reflex auf Ressourcenknappheit. Entweder ist’s die Natur selber, die diese Angst triggert, oder Alphas, die geschickt auf dieser Tastatur der Emotionen zu spielen wissen. Aus dieser Angst heraus fallen wir über einander her und brauchen Generationen, den Konflikt wieder zu überwinden – und schon sind hundert Jahre vergangen und ein weiterer Alpha reisst die alte Wunde aus Selbstnutz wieder auf.
Zu guter Letzt erkennen wir, dass unsere gemeine Definition von Grossmacht überhaupt nichts grosses an sich hat, sondern etwas zerstörerisches. Wer tatsächlich Teil einer wahren Grossmacht sein möchte, wird automatisch Teil des «Grossen Werks», der Transzendierung der Menschheit, Pionier der Symbiose-Kultur. Denn eine Grossmacht kann sich nicht selbst auf Dauer gross machen – es ist der Weg der Wahrheit und das Tun der Nächstenliebe alleine, was uns selbst von Angst befreit und so eine wahre, innerlich und äusserlich freie Grossmacht möglich macht. Ein Reich der Kulturen und nicht eines der Macht oder Organisation, Wettbewerbs oder privaten Reichtums.
Zuletzt bleibt mir noch zu schreiben, dass ein wahrlich grosses Werk für sich alleine steht und keine Helden braucht. Heldenglaube ist ebenso eine Krücke wie das nachbeten eines Glaubenssystems oder wissenschaftlichen Dogmas und macht nur solange stark, bis man alleine auf eingenen Füssen stehen muss. Und nur eine Grossmacht, deren Mitglieder freidenkende Wahrheitssucher sind, wird auch gross bleiben. Mit entsprechender Technik vielleicht gar bis unser Kosmos endet. Mit ensprechender Spiritualität auch noch darüber hinaus.